Tödliche Normalität - Schicksale in Tschetschenien

Tödliche Normalität - Schicksale in Tschetschenien

Routiniert zerlegt der 14-jährige Chassa die Kalaschnikoff seines Vaters, um sie dann zu säubern und mit kindlichem Ehrgeiz einzuölen. "Immer wenn er geschossen hat, gibt er sie mir danach", meint er stolz. Dann spielt Chassa mit anderen Kinder "Ausweiskontrolle" - in einer Kriegsruine mitten in Grosny, Tschetschenien.

Gleich nebenan wühlt die Tschetschenin Sazita im Schutt und klopft mit ihren Söhnen Ziegelsteine. 20 Euro umgerechnet erhalten sie für tausend Steine, ein mörderischer Job in der sengenden Sonne. Doch von dem Erlös geht die Hälfte an einen Beamten der Bezirksverwaltung. Schmiergeld, damit er sie gewähren lässt. Korruption, Nötigung, Erpressung, Mord - das sind die Spielregeln in der kleinen Kaukasusrepublik Tschetschenien, ein lukrativer Schauplatz für Raubritter aller Art. Anarchie ist Geschäftsgrundlage.

Auch für Ramsan Kadirow, den Sohn des in die Luft gesprengten Ex-Präsidenten Tschetscheniens. Er kontrolliert eine Gruppe von fast 6000 Kriegern, die längst gefürchteter sind als die russischen Truppen. Doch Sohn Ramsan hat nicht annähernd das Format seines Vaters.

Dessen Nachfolger soll nun am 29. August 2004 gewählt werden. Schon jetzt haben die Rebellen angekündigt, auch den neuen Herrscher möglichst schnell liquidieren zu wollen. Ein Klima von Angst und dunklen Ahnungen bestimmt jedes Gespräch mit einfachen Menschen in Tschetschenien, die ums bloße Überleben in diesem anarchischen Umfeld kämpfen.

Udo Lielischkies erzählt die Geschichte von Chassa, Sazita und andere Tschetschenen in ihrem bitteren Alltag vor den Wahlen.